«Ich möchte mal sehen, was hinter dem Berg ist» – Was Menschen in Armut im digitalen Wandel brauchen
Armutsbetroffene Personen sind besonders von sozialer Ausgrenzung bedroht. Der fortschreitende Wandel zur Digitalisierung und Digitalität sowie die Verlagerung des sozialen Lebens in digitale Räume verschärfen dieses Risiko, besonders dann, wenn ihre spezifischen Bedürfnisse nicht frühzeitig erkannt werden.
Ein Forschungsprojekt hat diese Anforderungen untersucht, um ihre Teilhabe an der digitalen Welt zu fördern. Wir stellen die Ergebnisse hier vor.
Ausgangslage: Digitaler Ausschluss von armutsbetroffenen Personen
Menschen in Armut sind besonders gefährdet, sozial ausgegrenzt zu werden (Huster et al., 2018). Die fortschreitende Digitalisierung verschärft dieses Risiko, da armutsbetroffenen Personen häufig der Zugang zu digitalen Geräten, das notwendige Wissen zur Nutzung digitaler Medien sowie ein unterstützendes Umfeld fehlen. Diese Faktoren hindern sie daran, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden und darin Lernerfahrungen zu sammeln (Chiapparini et al., 2023).
Auch zeigt sich, dass armutsbetroffene Personen bei der Entwicklung digitaler Technologien kaum berücksichtigt werden. Sie werden selten als zentrale Nutzendengruppe gesehen, was dazu führt, dass digitale Geräte und Plattformen oft nicht ihren Bedürfnissen entsprechen (Reidl et al., 2020). Deshalb ist es wichtig, die Bedürfnisse und den Angebotsbedarf im Bereich der Digitalisierung aus der Sicht armutsbetroffener Personen aufzuzeigen. Hier setzt das durchgeführte Forschungsprojekt an.
Methodisches Vorgehen: Recherche, Interviews und partizipativer Workshop
Um die Bedürfnisse und den Angebotsbedarf aus Perspektive armutsbetroffener Personen im Kontext der Digitalisierung zu ermitteln, wurde eine mehrschrittige Forschungsarbeit durchgeführt. Zunächst wurde in einer umfassenden Literatur- und Internetrecherche untersucht, welche Personengruppen in Digitalisierungsprozessen besonders vom Ausschluss bedroht sind und warum. Anschliessend wurde mit neun armutsbetroffenen Personen aus drei grösseren Schweizer Städten je ein qualitatives Interview geführt. Die Ergebnisse der Interviews wurden darauf an einem Workshop gemeinsam mit armutserfahrenen Personen, Fachpersonen der Technik und Informatik sowie der Sozialen Arbeit diskutiert, validiert und gewichtet.
Ergebnisse: Niederschwellige und flexible Angebote, Selbstständigkeit im digitalen Raum, gezielte Kursangebote und finanzielle Grundlagen
Das Forschungsprojekt zeigt, dass armutsbetroffene Personen im Kontext der Digitalisierung unterschiedliche Bedürfnisse aufweisen. Sie wünschen sich leicht zugängliche und flexiblen Kurse, um digitale Fähigkeiten zu erlernen. Wichtig ist dabei, dass die Kurse nicht nur von Fachpersonen angeboten werden, sondern auch Peerarbeitende einbezogen werden. Diese unterstützen als ehemals betroffene Personen die Teilnehmenden beim Umgang mit digitalen Geräten und Medien, was einen niederschwelligeren und weniger schambehafteten Zugang ermöglicht.
Es wird betont, dass Kurse nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch einen Raum für praktisches Ausprobieren bieten sollten. Viele armutsbetroffene Personen haben wenig Gelegenheit, sich mit weit verbreiteten digitalen Anwendungen vertraut zu machen, die für sie jedoch oft eine Herausforderung darstellen oder unbekannt bekannt sind. Die Möglichkeit, digitale Tools in einem sicheren Rahmen auszuprobieren und zu experimentieren, wird als besonders wichtig angesehen. Ein solcher Raum soll den Teilnehmenden nicht nur technische Fähigkeiten vermitteln, sondern auch ihr Vertrauen in die eigenständige Nutzung digitaler Technologien stärken. Zudem hilft er ihnen, zu erkennen, ob sie ihre Fähigkeiten in diesem Bereich weiter ausbauen möchten. Auch abseits von Kursen oder speziellen Experimentierräumen wünschen sich die Befragten Unterstützung, etwa durch verständliche Anleitungen zur selbstständigen Nutzung und Problemlösung von digitalen Geräten und Medien.
Besonders wichtig sind für sie Themen wie digitale Finanzverwaltung (z.B. E-Banking) und der korrekte Umgang mit digitalen Geräten und Medien im Hinblick auf Datenschutz und Datensicherheit.
Zusätzlich wird betont, dass nicht nur die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen, sondern auch die strukturellen Rahmenbedingungen, um den breiten Zugang zu digitalen Geräten und Lernmöglichkeiten zu ermöglichen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass armutsbetroffene Personen in der Digitalisierung eine Vielzahl von Bedürfnissen haben, die eine ganzheitliche und differenzierte Betrachtung erfordern. Es geht nicht nur um die Vermittlung von technischen Fähigkeiten, sondern auch darum, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, selbstbestimmt, experimentierfreudig, flexibel und sicher in der digitalen Welt zu agieren – wie es in einem Interview treffend formuliert wurde, «(…)mal sehen, was hinter dem Berg ist». Neben formellen Bildungsangeboten spielen auch informelle Unterstützung, etwa durch andere armutserfahrene Personen (Peerarbeitende) und der Zugang zu digitalen Geräten und Medien eine wichtige Rolle.
Referenzen
Chiapparini, E., Willener, D., Domonell, C. & Hegedüs, A. (2023). Digitalisierung: Hürden für vulnerable Gruppen. Online verfügbar unter https://arbor.bfh.ch/18933/1/Digitalisierung_CHSS_Chiapparini%20et%20al.%202023_geschwärzt.pdf
Huster, E.-U., Boeckh, J. & Mogge-Grotjahn, H. (Hrsg.). (2018). Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung (3. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
Reidl, S., Streicher, J., Hoch, M., Hausner, B., Waibel, G. & Gürtl, F. (2020). Digitale Ungleichheit: Wie sie entsteht, was sie bewirkt…und was dagegen hilft. Wien: Österreichische Forschungsfördergesellschaft mbH (FFG), Programm Laura Bassi 4.0.
Walther, L. & Chiapparini, E. (2024). Gemeinsam Gegen den digitalen Ausschluss. Ein partizipatives Forschungsprojekt zu den Bedürfnissen und zum Angebotsbedarf von armutsbetroffenen Personen im Kontext der Digitalisierung. Bern: Berner Fachhochschule. Online verfügbar unter: https://www.bfh.ch/dam/jcr:9b76cffb-e8c7-48e1-aef3-1a008754b526
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