Wie der Gender Data Gap mit der Digitalisierung zusammenhängt

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Bei vielen medizinischen Studien ist der Anteil teilnehmender Patientinnen gering. Die meisten Teilnehmenden sind männlich. Die Folge ist, dass die Datenlage zu Frauen in der Medizin oft viel schlechter ist als die zu Männern. Es gibt einen Gender Data Gap – nicht überall, aber in zu vielen Bereichen. Dazu kommt, dass in einzelnen Bereichen, es zu Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Leiden in Bezug auf Frauen keine oder veraltete Daten gibt: das heisst beispielsweise nur Daten aus Zeiten, als heute völlig veraltete Therapien angewandt wurden. Das ist dann zwar kein Gender Data Gap, aber ein grosses Problem ist es trotzdem. Denn ohne Daten keine evidenzbasierte Vorsorge und Therapie.

Und schliesslich dauert selbst dort, wo mittlerweile Daten vorhanden sind, gerade bei Frauen die Adaptierung der Behandlungsempfehlung oft sehr lange. Hier haben wir es also mit einem Gender Data-Follow-Up Gap zu tun. Wenn es gelänge, den Gender Data Gap in den nächsten 10 Jahren zu schliessen, würde es vermutlich nochmals 15 weitere Jahre dauern, bis auch alle medizinischen Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen dies auch berücksichtigen. Nur ist dieses Ziel der Schliessung des Gender Data Gaps eher illusorisch, weil er schon seit langem immer wieder einmal ein Thema ist, das dann doch meist nicht entschieden genug angegangen wird.

Lösungsansätze

Angesichts einer im Grossen und Ganzen sehr klaren Faktenlage könnte man sich also der Problemlösung sehr direkt zuwenden. Klar ist, dass bei zukünftigen Studien ähnlich viele Frauen wie Männer beteiligt werden sollen, wann immer dies von der Krankheit her sinnvoll ist. Wenn dies Mehraufwand verursacht, so müssen wir diesen akzeptieren. Ihn explizit zu benennen, hilft sogar, weil die Lebenserfahrung uns lehrt, dass solch ein Mehraufwand mal real und mal nur eine unbegründete Annahme ist. Klar ist weiter, dass es eine Auslegeordnung braucht, wo der Gender Data Gap besonders negative Folgen hat und eine strategische Roadmap dazu, wie man schrittweise den Gap schliessen will und realistischerweise auch kann. Dies ist ein anspruchsvolles Vorhaben, weil viele unterschiedliche Interessen am Tisch sitzen und diejenigen, die aktiv werden müssen, nicht immer direkt davon profitieren.

Bei zukünftigen Studien sollten ähnlich viele Frauen wie Männer beteiligt werden, wann immer dies von der Krankheit her sinnvoll ist.

Darüber hinaus wäre Erfahrungsaustausch sinnvoll, wie man mit den Folgen des Gender Gaps in Behandlungssituationen und in Präventionsprogrammen umgehen kann. Wobei ich letzteres niemals in die Diskussion einbringen würde, weil danach ein endloser Diskurs über Nicht-Prävention losgehen würde, der den Gender Data Gap aus der Wahrnehmung völlig verdrängen würde. Dieses Problem, dass das Thema sehr schnell verdrängt wird, ist ein Grund, warum es so wenig vorwärts geht – beim Gender Data Gap im Speziellen und beim Gesundheitswesen im Allgemeinen.

Ja, angesichts der im Grossen und Ganzen sehr klaren Faktenlage könnte man … aber man tut es nicht. Das Problem mit den Problemen ist auch hier, dass sie von den Menschen nicht als solche ertragen werden. So sicher wie das Amen im Gebet kommen im Fall einer Diskussion über Frauengesundheit Männerprobleme zur Sprache. Dies ist zum Teil vermutlich sehr wohl eine Reaktion auf den Frauenfokus, der einige anwesende Männer stört, aber es ist auch dort im Gesundheitswesen beobachtbar, wo es um gänzlich anderes geht. Es fehlt generell die Bereitschaft zur Fokussierung, weil diese erstens viel härteres Nachdenken erfordern würde und zweitens viele die Angst haben, dass durch die konsequente Fokussierung auf das Lösen eines Problems ihre eigenen Interessen Schaden nehmen würden.

Das Problem mit den Problemen

Überhaupt gelten Probleme als uncool. Während Reinhard K. Sprenger betont, dass «Shared Problems» das grösste Asset eines Unternehmens sind, heisst es bei den meisten Führungskräften nur stereotyp «Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen.» Während nun aber ernstgenommene Herausforderungen und ernstgenommene Probleme das gleiche, konsequente Engagement hervorrufen (und bei manchen Menschen der Begriff «Problem» tatsächlich zu einer psychisch begründeten Handlungsblockade führt, welche man allenfalls durch den Begriff Herausforderung umgehen kann), so erhöht diese sprachliche Umorientierung trotzdem das Risiko des Nichthandelns.

Wir sollten Strategien entwickeln, um den Gender Data Gap dort abbauen, wo er besonders schwerwiegende Folgen verursacht.

Vor einer Herausforderung zu kapitulieren kann auch Ausdruck von Vernunft sein – beispielsweise, wenn man 200 Meter unter dem Gipfel wegen sich verschlechternder Witterungsverhältnisse oder zunehmender Erschöpfung umkehrt. Vor einem Problem zu kapitulieren lässt sich dagegen viel schlechter rechtfertigen. Oder haben Sie jemals gehört, dass falsche medizinische Therapien eine Herausforderung sind? Herausforderungen sind höchstens objektive Schwierigkeiten – fehlende Daten früherer Untersuchungen, diffuse Symptomschilderungen durch die Patientin / den Patienten, veraltete technische Geräte, etc. – nicht aber die Wahl einer Therapie, die nicht hilft. Sie ist immer ein Problem, egal ob es sich um einen ärztlichen Fehler oder um Pech handelt.

Wir sollten also den Gender Data Gap als ein Problem sehen, das in unterschiedlichen Bereichen der Gesundheitsversorgung unterschiedlich gross ist. Und statt dass wir dieses Problem relativieren durch andere Probleme, sollten wir erstens Strategien entwickeln, dass es in Zukunft nicht reproduziert wird, und zweitens es dort abbauen, wo es besonders schwerwiegende Folgen hat. Die Ökonomie ist dann fast sicher auf unserer Seite. Sieht man von den letzten Lebensmonaten ab, ist das Beste für die Patientin / den Patienten fast immer das günstigste für das ganze System. Den Gender Data Gap zu schliessen, wird zwar das Gesundheitswesen nicht billiger machen, aber es wird die Anzahl gesunder Lebensjahre erhöhen und sich volkswirtschaftlich ziemlich sicher rentieren – ziemlich sicher deshalb, weil jede Rechnung dazu Annahmen machen muss, die etwas willkürlich sind.

Einwände …

Einwände dagegen gibt es: Wir haben viele andere Probleme ist einer – aber mit diesem kann letztlich jedes Handeln abwürgen und einfach überhaupt aufhören, irgendetwas zu ändern. Ein anderer ist, dass dieses Thema hier gar nicht in dieses Wissenschaftsmagazin passt, das sich ja eigentlich um Digitalisierung kümmert.

Tatsächlich ist die Ursache für den Gender Data Gap die Forschung, nicht die Digitalisierung. Das kann man so sehen, es ist logisch stringent gedacht. Betrachtet man aber anstelle der Digitalisierung die digitale Transformation als solche und tut dies nicht nur faktisch, sondern auch strategisch, so erkennt man, wie zentral die Datenstrategie für das Gelingen der Transformation ist. Eine Datenstrategie im Gesundheitswesen, welche Frauen benachteiligt, ist eine unfaire Datenstrategie. Eine darauf aufbauende digitale Transformation wird ebenso eine unfaire sein. Der Gender Data Gap ist im Fall ein Grundproblem, respektive eine Grundherausforderungen, für die digitale Transformation des Gesundheitswesens.

 

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AUTHOR: Reinhard Riedl

Prof. Dr. Reinhard Riedl ist Dozent am Institut Digital Technology Management der BFH Wirtschaft. Er engagiert sich in vielen Organisationen und ist u.a. Vizepräsident des Schweizer E-Government Symposium sowie Mitglied des Steuerungsausschuss von TA-Swiss. Zudem ist er u.a. Vorstandsmitglied von eJustice.ch, Praevenire - Verein zur Optimierung der solidarischen Gesundheitsversorgung (Österreich) und All-acad.com.

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